Historische Aspekte zum Phänomen Kinderzeichnung
Zusammenfassung nach H.G. Richter, Die Kinderzeichnung, 1987
Die frühesten entwicklungspsychologischen Darstellungen des Menschen gehen auf die Zeit der Aufklärung zurück ( F. Engels, 1753; D.N. Schönfeld,1764,T. Tiedemanns,1787). Sie enthalten keine Hinweise auf nichtsprachliche, darstellende Äußerungen des Kindes. Kindliche Darstellung hat sich in dieser Zeit an den Gestaltungstechniken und Gestaltungsidealen der Bildenden Kunst zu orientieren. Bei den „Scholaren, welche die Perspektive noch nicht tractieren können“, gibt man sich inzwischen mit schlechter Zeichnung einiger „Simplicium“ zufrieden. Richter zitiert hier als Beispiel das “Pädagogium“ von A.H. Francke aus der Zeit vor 1750. Zeichnen diente damals allein zur Vorbereitung einer Künstlerlehre und wurde ganz unter dem Vorzeichen der Hochkunst gesehen. Für spontane bildhafte Objektivationen des Kindes war in den Erziehungslehrern der Zeit kein Platz vorgesehen. Das änderte sich erst mit der Entwicklung einer beobachtenden Pädagogik bei Pestalozzi und Fröbel zu Beginn des 19. Jhs.. Fröbel beschreibt 1826 als einer der ersten in seinem Buch „Menschenerziehung“ das Entstehen einer Kinderzeichnung ausführlich. Wie sein Zeitgenosse Pestalozzi deutet auch er die an Kindern beobachteten spontanen Aktionen kritisch um und versucht sie dem eigenen System von formalen Zeichenoperationen (Elementarlehren, ABC der Anschauung etc.) dienstbar zu machen. Die eigentliche „Entdeckung“ der Kinderzeichnung erfolgt erst 60 Jahre später,„fast unverständlich“ spät (Richter), jedoch in der Folge so vehement und facettenreich, dass man schon in den 20er Jahren von einer eigenen Forschungsgeschichte in diesem Bereich sprechen kann.
Die Entdeckung der Kinderzeichnung
Erste Hinweise auf das spontane Zeichnen des Kindes veröffentlicht E. Cooke, 1885 im „Journal of Education“. Er attackiert im Zusammenhang mit einer Neuorientierung des Zeichenunterrichts das Vorlagenzeichnen nach Pestalozzi und Fröbel, weil es die kindliche Natur zu wenig berücksichtige. Das Kind sei nicht für das System gemacht. Nach dem Vorbild belgischer Kindergärten, die das Kopieren von Vorlagen abgeschafft hatten, spricht er erstmals von einer „Stufentheorie“ der zeichnerischen Entwicklung.
Der italienische Kunsthistoriker C. Ricci hat als erster die Phänomene kindlicher Bildnerei, die Cooke beschrieb, systematisch erforscht. In seinem Buch „l`arte dei bambini“ (1887) schildert er wie er in einem Bogengang in Bologna neben historischen Graffitis Zeichnungen entdeckte, die von Kindern stammten. Daraufhin begann er zusammen mit Lehrern und Schulinspektoren einen möglichst großen Bestand von Kinderzeichnungen zusammenzutragen, welcher die Grundlage seiner Forschung bildete. Ricci verlegt den Beginn der Kinderzeichnung in das 4. Lebensjahr (Kopffüßlerstadium). Stufenweise werden diesem ersten Menschenzeichen Arme, Beine und andere charakterisierende Merkmale mitgegeben, bis hin zu Anzeichen eines „unvollkommenen Strebens nach Wahrheit“. Richter sieht in dieser Formulierung den Keim des „naturalistischen Missverständnisses“ dieser Zeit. Das Kind beschreibe laut Ricci Menschen und Dinge aus dem Gedächtnis mit Zeichen, statt sie künstlerisch wiederzugeben. So erklären sich „logische Irrtümer“ wie Röntgenbilder, gemischte Profile oder Umklappen eines charakteristischen Details. Ricci weist als erster auch auf eine Beziehung zwischen „kindlicher Kunst“ und prähistorischer Kunst sowie „Verfallskunst“ hin. Ricci spricht, ganz im Tenor seiner Zeit, dem kindlichen Bilden jede „künstlerische“ Funktion ab. Erst jenseits von Kindheit und Jugend sind nach seiner Einschätzung die Bedingungen für eine bildnerische Produktion von künstlerischem Rang gegeben.
Die erste systematische Untersuchung über die Natur der kindlichen Ausdrucksfähigkeit und die Entwicklung des zeichnerischen Ausdrucks veröffentlicht der englische Psychologe J.Sully im Jahre 1895 als Buch („Studies of Childhood“). Er spricht als einer der ersten vom “Kind als Künstler“. Seine theoretische Analyse des vorästhetischen Verhaltens des Kindes bleibt bis in die 20er Jahre hinein verbindlich. Ursprung der bildnerischen Aktivitäten des Kindes ist für ihn der „Kunsttrieb“, der als eine Art Überbleibsel der „Putzsucht der Wilden“ zu sehen sei. Erste noch rohe Kundgebungen des ästhetischen Geschmacks eines Kindes ist für ihn dessen Vorliebe für bestimmte farbige Gegenstände. Die ersten produktiven Aktivitäten erkennt Sully im Spieltrieb des Kindes z.B. beim Kneten von Brotkügelchen. Schon in diesen frühesten Objektivationen des Kindes entdeckt er eine soziale Funktion, eine Mitteilung für andere - Feststellungen deren Gültigkeit auch heute noch außer Frage stehen. Wenn er im Folgenden die Entwicklung der Kinderzeichnung beschreibt, dann schleichen sich in seine Betrachtungen zeittypische Urteile Erwachsener ein. Immer wieder vergleicht er die Kinderzeichnung mit Zeichnungen von Indianern und erwachsenen „Wilden“ oder spricht von „Mangel an Proportionen“. Derart negative Bemerkungen hinterlassen in der Literatur zur Kinderzeichnung auf lange Zeit Spuren.
Im deutschsprachigen Raum beginnt eine breitere Auseinandersetzung mit dem Phänomen Kinderzeichnung mit der Ausstellung „Das Kind als Künstler“ in der Kunsthalle Hamburg (1898). C. Götze, der drei Jahre später zu den Initiatoren des 1. Kunsterziehungstages gehört, verschaffte hier zum ersten Mal Lehrern Einblicke in die anthropogenen Voraussetzungen der künstlerischen Erziehung. Vor allem die Resultate der Untersuchungen von Ricci und Sully und deren Erklärungen zur Entwicklung des schemagebundenen Zeichnens der Kinder wurde einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt. Mit dieser Ausstellung beginnt eine nachhaltige Diskussion in Deutschland über einen der „kindlichen Natur entsprechenden Zeichenunterricht“. Der Münchner Stadtschulrat G. Kerschensteiner kreist in einer äußerst breit angelegten Massenuntersuchung zur Kinderzeichnung das Thema unter bestimmten Fragestellungen ein, die als Endpunkt der Entwicklung von einer vollendeten Raumdarstellung ausgehen und somit den Kunstidealen seiner Zeit verpflichtet sind und aus heutiger Sicht eher historischen Wert besitzen.
Verschiedene Systementwürfe
In den Jahren zwischen 1900 und 1915 erreicht das neue Interesse an der Kinderzeichnung seinen Höhepunkt. Es würde zu weit führen auf die vielen Veröffentlichungen zu dem Thema eingehen zu wollen. Mit der Schrift „Le dessin enfantin“ von G.-H. Luquet, 1927, mit der Untersuchung „Measurment of Intelligence by Drawings“ von F.L.Goodenough lagen erste Systementwürfe vor, die bis in unsere Zeit hinein neu aufgelegt werden.
Die Theorien zur Erklärung des psychischen Hintergrundes der Kinderzeichnung widersprechen sich teilweise. Während für K.Bühler und J. Piaget die Kinderzeichnung aus der Lust zur Nachahmung visueller Wirklichkeit entsteht und eine „Sprache ohne psychische Bedeutung“ (Eid, Langer, Rupprecht) ist sehen die Ganzheitspsychologen in ihr die Projektion von Emotionen und Affekten des Kindes. Gestalttheoretiker sehen ein dem Menschen angeborenes System von optischen Prägnanzfiguren die sich in der Kinderzeichnung manifestieren. Einige Wissenschaftler sehen in der Entwicklung der Kinderzeichnung eine Analogie zur Entwicklung von der Früh- zur Hochkunst (Levinstein, 1907, Britsch-Kornmann u.a.).
Die Entwicklung der Kinderzeichnung
Zusammenfassung nach H.G. Richter, Die Kinderzeichnung, 1987
Phase des Spurschmierens
Eine Vorgeschichte der zeichnerischen Entwicklung des Kindes beginnt mit dem sogenannten „Schmieren“ oder „Sudeln“, welches mit der Entwicklung der motorischen und visuellen Aktivitäten des Säuglings eng zusammenhängt. Die Entwicklung des Spurschmierens setzt beim Kind mit Beginn des 2. Lebensjahres und der Umstellung von flüssiger auf fester Nahrung ein. Kotschmieren und Kotkneten werden zu lustbesetzten Tätigkeiten, denen die Sauberkeitserziehung rasch ein Ende setzt. Die Entdeckung des Kindes, dass die selbst gesetzten Spuren überdauern, sind dem Kind eine „Quelle des Glücks“ (Widlöcher, 1974). Den Umgang mit dem Stift lernt das Kind spielend. Die Literatur spricht von „Funktionsspielen“. Mit Entwicklung der Fähigkeit zum Greifen eines spurgebenden Gegenstandes ( 8./9.Monat) und der Verwendung spurgebender Materialien wie Stift und Papier beginnt die Phase des Kritzelns, die durchaus neben dem Spurschmieren existieren kann und zunächst eng mit der Entwicklung allgemeiner Gebärdenaktivitäten zusammenhängt. Die Möglichkeit seine Umwelt dauerhaft zu verändern wird vom Kind als „lustvoll“ empfunden. Zuerst entstehen zufällige Spuren. Durch Verdichtung werden diese zu einem „Etwas“. Britsch spricht in von der Unterscheidung von Gemeintem und Nicht-Gemeintem entsprechend dem Gesetz der Nähe. Grötzinger belegt dieses erste „Etwas“ mit dem Begriff „Urknäuel“. Seiner Ansicht nach befreit sich das Kind im zweiten Lebensjahr in ersten zeichnerischen Aktivitäten, die er auch mit der Bezeichnung „Urkreuz“ belegt von einem rotierenden Raumgefühl, das seine Entstehung den Erlebnissen im Mutterleib zu verdanken hat. Im dritten Lebensjahr treten noch eine „Ur-Zickzackstrecke“ und ein „Urkasten“ hinzu.
Kritzelphase
In der Literatur wird das Kritzelgeschehen unter unterschiedlichen Gesichtspunkten bewertet. Für H. Meyers (1971) ist das erste Kritzelereignis das sog. „Hiebkritzel“, es folgen „Schwingkritzel“, Kreiskritzel“ und „verschiedengeformte Kreiskritzel“. Die ungesteuerten Gebärden des Kindes schlagen zu einem Gestus um, so das ein erstes Bewegungskonzept entsteht. Ab dem 2./3. Lebensjahr werden die Linien gerader, eine Zickzacklinie und ein „Urkreuz“ entstehen. Die gefühlsbetont schwingenden Bewegungen des Kindes weichen nun einem bewussten Ausprobieren von Bewegungsgegensätzen. Es entstehen auf dem Blatt wie auf einer begehbaren Fläche Kringelketten und Schriftgebilde. Mit dem „Gestenkritzel“ oder auch dem „isolierten Kreiskritzel“ beginnt um die Mitte des 2. Lebensjahres eine neue Phase, weil erstmals ein beigefügter „Sinn“ ins Spiel kommt, wenngleich die Sinngebungen zunächst noch instabil sind und sich in den Zeichnungen selbst noch nicht entdecken lassen. Spätestens am Ende des 2. Lebensjahres können alle Kritzelereignisse nebeneinander auftauchen, auch wenn sie zuvor nacheinander entwickelt wurden. Repräsentierende, darstellende zeichnerische Prozesse scheinen sehr viel früher zu beginnen als dies für den unbeteiligten Betrachter sichtbar wird. Mit Sicherheit gehen schon in Kritzelereignisse um das 2. Lebensjahr situativ-spontane und emotionale Vorgänge mit ein. Nach Widlöcher ist der Zeitpunkt, zu dem das Kind erstmals in der Lage ist zum Ausgangspunkt einer Rundung zurückzukehren der Zeitraum, in dem die Zeichnung „geboren“ wird. Die „Konzeptkritzel“ zu Beginn des 4. Lebensjahres stehen auf der Grenze zur vorschematischen Darstellung. Sie enthalten Darstellungsanteile wie Kopffüßler, Kasten- Hausformen, Leiter-Baumformen und zeigen auch noch Reste von Kritzelelementen. Sie stehen am Übergang zur Vorschemaphase, in der sich erstmals ein Bildkonzept entwickelt. Kaum ein Ereignis der Entwicklungsgeschichte der Kinderzeichnung hat so viel Aufmerksamkeit gefunden wie die Entstehung der Kopffüßler. Für Sully bedeuten sie den Beginn einer naturgetreuen Darstellung, auch wenn das Kind dabei immer noch die Form „jämmerlich missversteht“. Im Kopffüßler gelingt es dem Kind zeichnerisch zwei oder mehr erarbeitete Figurationen zusammenzuschließen (isolierte Kreiskritzel mit Lineinpaaren), welche fortan für eine gewisse Zeit den Menschen und andere Gegenstände repräsentieren.
Im Verlauf der weiteren Entwicklung der Kinderzeichnung wird immer eine derartig Phasen der Schematisierung einer aus der Umstrukturierung verfestigter Formzusammenhänge geborenen Synthese zu beobachten sein.
Mit der Sprachentwicklung entdeckt das Kind, dass es die Gebilde benennen kann. Seitz spricht vom „Stadium der Benennung“. Im Zusammenhang damit steht auch die Entdeckung der Kontur. Die Benennung erfolgt erst wechselnd und willkürlich. Zunehmend bestimmt die Ähnlichkeit mit Gegenständen deren Bedeutung, so dass das Kind den Bildern Attribute zur besseren Unterscheidung beifügt (Stadium der Differenzierung). In dieser Phase entstehen die ersten Kopffüßler. Die Bedeutung der Kontur bleibt ein Kennzeichen der Kinderzeichnung, da sie einen großen Orientierungswert besitzt. Das Gesichtsschema wird vom Kind spontan gefunden. Man vermutet, dass es angeboren ist. Das Kind bevorzugt den rechten Winkel. Der Mensch bleibt das Hauptthema dieser Phase und entwickelt sich vom Kopffüßler mit etwa dem 5. Lebensjahr zum Männchenschema weiter.
Vorschemaphase
Mit der ersten Organisation der vorhanden Figurationen auf der Zeichenfläche gegen Ende des 4. Lebensjahres spricht man von der „Geburt des Bildes“ (Pfleiderer, 1930). Folgende Merkmale sind in der frühen Vorschemaphase zu beobachten. Zunehmend richtet sich die Bildorganisation nach einem oben und unten, links und rechts aus. Die einzelnen Bildzeichen erhalten immer mehr charakterisierende Merkmale. Das Repertoire der dargestellten Gegenstände erweitert sich, wobei sich die Auswahl der Motive nach deren optischer Prägnanz richtet. Es werden lockere, erste Erzählmuster in den Zeichnungen aufgebaut. „Die Tatsache, dass das Kind jetzt fähig ist, auf einer zweidimensionalen Fläche einen Ausschnitt seiner Konzeption der visuellen Welt darzustellen, ist eine aufregende und befriedigende Erfahrung“(Lowenfeld/Brittain, 1967). Entsprechend dem Primitivschema für das Menschenzeichen werden auch alle anderen Gegenstände schematisierend dargestellt. Anfangs werden unterschiedliche Formkombinationen zur Darstellung ein und desselben Objekts verwendet. Später bildet sich eine immer gleiche Widerholung zur Wiedergabe eines bestimmten Gegenstandes heraus. Die Ursache der Bevorzugung eines geometrisierenden Formenvokabulars liegt in dem Verlangen des Kindes nach Ordnung gegenüber der Vielfalt optischer Wirklichkeit.
Schemaphase -„Werkreife“
Nach den Aufbaustadien, der Kritzelphase und der Vorschemaphase sind etwa nach dem fünften Lebensjahr die grundlegenden Merkmale der Personen und Gegenstände erarbeitet. Nach dieser Zeit wird die Kinderzeichnung zwar noch reicher an Details und Verknüpfungen, aber es treten keine grundsätzlich neuen Ereignisse mehr auf. K. Bühler verwendet für dieses Stadium den Begriff „Werkreife“ (1967). Mit ihr bekommen die Kinder neben den bisherigen spontanen, „tiefempfundenen“ Äußerungsmöglichkeiten der Zeichnung die Fähigkeit etwas bewusst darzustellen. Die wesentlichsten Merkmale der Werkreife sind die Erweiterung der Darstellungs- und Ausdrucksfunktion und eine Verdeutlichung des Mitteilungsgehalts der Kinderzeichnung. „Das Kind reagiert nach der Werkreife zunehmend auf die Verständnisbereitschaft und die Verstehensabsicht des Betrachters mit einer Wiederholung und Verdeutlichung der Darstellungsformen. Es gibt damit eine Mitteilungsabsicht kund, die sogar zu einer Umorganisation der Motive führen kann, wenn es sich nicht verstanden fühlt“ (Richter. S. 48). Es existieren unterschiedliche Methoden der Analyse dieser äußerst produktiven Stufe der mittleren Kindheit, die H. Meyers eine „bildermächtige Zeit“ nennt. Goodenough und Harris entwickeln einen Katalog von Merkmalen, die sich fast ausschließlich auf das Menschzeichen konzentrieren. Schetty und John-Winde verdeutlichen die Blattausnutzung und Flächenverteilung durch ein Raster, das sie auf die Zeichnungen legen. Am häufigsten ist die Analyse der Raumorganisation in Begriffen wie „Streuung“, „Boden-Standlinie“, „Überschneidung“, „Überdeckung“, „Umklappung“ oder „Schrägbild“ etc.
Typische Merkmale der Schemaphase
Fünf Merkmale lassen sich als Kennzeichen dieser charakteristischsten Phase der Kinderzeichnung benennen:
R-Prinzip
Das Prinzip der Richtungsdifferenzierung im rechten Winkel fiel bereits Fröbel im 19. Jh. Als besonderes Merkmal der Kinderzeichnung auf. Die Bildelemente werden zunächst möglichst rechtwinklig aufeinandergesetzt. Fritz Reiß hat dieses Phänomen besonders bei 6-7-jährigen Kindern beobachtet. Dieses „R-Prinzip“ verliert sich in der Schemaphase allmählich zu Gunsten einer gegenstandsorientierten Darstellungsform. Jedoch zeichnen noch viele Schulkinder den Schorstein eines Hauses rechtwinklig zur Dachschräge. Analog hierzu malt das Kind auch in größtmöglichen Farbunterschieden.
Röntgenbild
Das „Röntgenbild“ sahen bereits die frühen Theoretiker der Kinderzeichnung als Beleg dafür an, dass das zeichnende Kind mehr vom Wissen um die Dinge als von deren visueller Erscheinung ausgeht (Luquet, 1927). Martin Schuster erklärt das Phnomen mit einer heorie von sog. Raumscheiben.
Bedeutungsperspektive
Das Phänomen der Bedeutungsgröße oder auch Bedeutungsperspektive erinnert an Phänomene der Kunstgeschichte (z.B. MA). In der Schemaphase wird ein Motiv durch seine Größe deshalb besonders hervorgehoben, weil es für den Zeichner eine besondere Bedeutung hat. Auch aus Überschneidungsnot heraus entstehen derartige Größenunterschiede. In primitiven Kulturen und in der Volkskunst bleibt die Ausdrucksproportion als Merkmal erhalten.
Exemplarisches Detail
In Zusammenhang damit steht auch das „exemplarische Detail“, das ebenfalls Analogien mit archaischen und mittelalterlichen Kunststilen besitzt. Ein besonders hervorgehobenes Detail benutzt das Kind zur besonderen Charakterisierung einer Person bzw. eines Gegenstandes.
Prägnanztendenz - Umklappung
Das Kind will Gegenstände in möglichst charakteristischer, klarer und eindeutiger Ansicht darstellen. Demnach stellt es Hunde, Katzen etc. von der Seite, Insekten aber von oben dar. Gestalttheoretiker ( Ehrenfels, Wertheimer u.a.) haben den Begriff „Prägnanztendenz“ geprägt, der ein wesentliches Kennzeichen der Schemaphase ist. Damit werden gewisse auffallende Erscheinungsformen des Schemabildes charakterisiert, die häufig unter dem Terminus „Umklappung“ zusammengefasst werden. So werden bei einem Auto z.B. der Aufbau von oben, die Räder jedoch als Kreise von der Seite gezeigt. Viele Schemabilder zeigen Kombinationen solcher Prägnanzformen.
Typische Menschendarstellung
Zunächst wird das Menschenzeichen in der Schemaphase immer frontal wiedergegeben. Nur die Füße zeichnet das Kind in der Regel um der größeren Deutlichkeit willen in seitlicher Ansicht. Im Verlauf der zweiten Schemaphase in der mittleren Kindheit, mit 10-12 Jahren wird die en-face-Darstellung häufiger von Profildarstellungen abgelöst. Nur wenioge Erwachsene sind zu reinen Profildarstellungen fähig. Da sich das Kind mit allem Lebendigen identifiziert, geraten auch die Tierdarstellungen anthropomorph. Die anfangs eher geometrisierenden Formen werden allmählich von organischeren abgelöst. Erst wenn das R-Prinzip aufgelöst ist, ist das Kind auch in der Lage Bewegungsrichtungen darzustellen.
Die zweite Schemaphase der mittleren Kindheit
Allgemein werden neu gewonnenen Schemata so lange ausgekostet bis sie das Kind langweilen. Dann findet das Kind neue Differenzierungsmöglichkeiten (lange Haare, Haus, Baum, Zaun, Sonne etc.). Die zweite Schemaphase verläuft nicht kontinuierlich. Im Lauf der Entwicklung treten immer wieder Formen früherer Entwicklungsstufen mit denen, die einer nächsten Stufe angehören gemischt auf. Mit einer spürbaren Veränderung der ersten Schemaphase ist im 8./9. Lebensjahr zu rechnen, in einem Alter, in dem z.B. Piaget die Beherrschung unanschaulicher Operationen ansiedelt. Er nennt dieses Alter auch voraduleszent weil es der eigentlichen Aduleszenz und ihren hochformalen Denkoperationen vorausgeht. Die Adoleszenz siedelt er zwischen dem 12. und 13. Lebensjahr an, die Grenze von der mittleren zur späten Kindheit im 9. Lebensjahr. Die späte Kindheit wird in der Literatur zur Kinderzeichnung eher weniger beachtet. Wenn, dann werden meist die „schönen“ Zeichnungen untersucht. Allgemeine Entwicklungstendenzen und besondere Merkmale der Kinderzeichnung der späten Kindheit oder auch der sog. „Zweiten Schemaphase“ sind:
Prinzip der größten Deutlichkeit
- Das Bildschema wird nach dem „Prinzip der größten Deutlichkeit“ umstrukturiert. Besondere Persönlichkeitsmerkmale des Zeichnenden prägen sich sichtbar aus. So zeichnen z.B. „hochängstliche“ Schüler in diesem Alter eher regressiv, d.h. sie greifen auf genetisch frühe Gestaltungsmerkmale zurück (Limberg, 1981).
Detailfreude
- Nach Lowenfeld verliert das Kind am Ende der Schemaphase (9.Lebensjahr) das uneingeschränkte Vertrauen in die eigene Schöpferkraft, weil es sich vom ichbetonten Selbstausdruck ab- und der direkteren Auseinandersetzung mit seiner Umwelt zuwendet. Deshalb nehmen in seinen Darstellungen realistische Elemente zu. Eine spürbare Zunahme an egenstandsanalogen Details zwischen dem 9. uns 11./12. Lebensjahr ( Goodenough, 1926). Die Formen dieser Detailfreude ist stärker als zuvor abhängig von Einflüssen der Schule, der Gruppe etc. Am Ende dieser Phase explodiert die Lust an gegenstandsanalogen Details geradezu. Es tauchen Grundrisse, Querschnitte mit akribisch bildhaften und sprachlichen Beschreibungen auf.
Veränderung der Bildmotive - Robinsondarstellungen
Auffallend ist in der zweiten Schemaphase eine Veränderung der Motive zu beobachten. Während man in früheren Zeiten den Wechsel von Märchenphantasien zu sog. Robinsondarstellungen (Meyers, 1971) ausmachen konnte, treten in Zeiten der „Fernsehkindheit“(v. Hentig) heute an deren Stelle auch Weltraumphantasien, Autoträume, Comic-Adaptionen und andere massenmedial vermittelte Motive. Daneben dringen in die Motivwelt zunehmend auch Inhalte aus der politischen Kultur ein. Nach F. Reiss geht die Häufigkeit der Menschendarstellung nach dem 10./11. Lebensjahr spürbar zurück.
Karikierung und Übertreibung - Sprachelemente
- Neben der Tendenz zur gegenstandsadäquaten Detaillierung macht sich in der späten Kindheit auch ein Hang zu Übertreibungen, Karikierung und Ironisierung bemerkbar, der häufig mit einer Vergröberung des Einzelzeichens einhergeht. Einerseits wird dies in der Literatur bereits als Auflösungstendenz der Kinderzeichnung gewertet. Andererseits spielt hier wohl auch eine Angst vor einer unzulänglich „realistischen“ Widergabe oder eine Unsicherheitstendenz gegenüber den eigenen Darstellungsfähigkeiten herauslesen. Das Kind wendet sich in dieser Phase von der Visualisierung des Bildschemas ab, sucht karikierende Übertreibungen und neigt zwischen dem 10. und 11. Lebensjahr immer mehr dazu Sprachelemente statt bildhafter Darstellung einzufügen. In dem Maße in dem die „Macht des Bildes“ abnimmt, steigt die Textverwendung (Reiß).
Auflösung des Schemabildes in der späten Kindheit und im frühen Jugendalter
Das 12./13. Lebensjahr markiert bei Richter das Ende der Kinderzeichnung. Er spricht auch von einer Auflösung des Schemabildes und vom Beginn des Jugendalters. Nach der Endphase des Schemabildes mit den genannten Veränderungen entwickelt der Heranwachsende Präferenzen für bestimmte künstlerische Ausdrucksformen und versucht das bisher entwickelte gegenstandsadäquate Zeichenrepertoire dieses Vorlieben anzunähern. Am ehesten gelingt eine Integration des eigenen Zeichenrepertoires der späten Kindheit in ein realistisches Gestaltungskonzept. Lowenfeld/Brittain (1967) bezeichnen dieses Stadium als „pseudonaturalistisch“. Richter beobachtet neben dieser Integration der Elemente der Kinderzeichnung in ein realitätsnahes Bildkonzept, wie es der Begriff „pseudonaturalistisch“ voraussetzt, aber auch andere Präferenzen der Jugendlichen. So findet je nach Mode der Zeit heute man auch Orientierung an Bildkonzepten der Erwachsenenkunst, wie z. B. dem Surrealismus („pubertärer Surrealismus“). Zu Zeiten Hartlaubs(1922) oder R. Otts (1949) waren Anlehnungen an abstrakte Kunst und den Expressionismus zu finden, die in der Literatur auch als „expressionistisch“ (Read, 1962) bezeichnet werden. In den 60-er Jahren probierten viele Schüler einen „Picasso“. Derartige „Versuche“ werden in der Regel rasch wieder aufgegeben. Ab dem 13./14. Lebensjahr nehmen Gestaltungen im Sinne eines formal-ästhetischen „Formenspiels“ wieder zu. Während realistische Darstellungskonzepte im Jugendalter sich auf traditionelle Mittel wie Kohle, Bleistift, Rötel etc. stützen, beziehen nicht gegenstandsgebundene Konzepte auch Gestaltungstechniken ein, die typisch für die moderne Kunst sind ( Collage, Frottage, kombinatorische Verfahren). Oft kommen die Anregungen hierzu von Kunstbüchern oder aus dem Kunstunterricht, der sich lange als eine Schule für Moderne Kunst verstand. Realistische und „moderne“ Bildkonzepte können durchaus nebeneinander bestehen.
Nachahmung unterschiedlicher Vorbilder – Mediale Bildwelten
Die Untersuchungen über die Bildnerei des Jugendlichen sind in der Literatur mehr als dürftig. Wenn es welche gibt, dann gehen sie oft von dogmatischen Standpunkten aus. Für G. Mühle (1968) entwickeln erst Jugendliche die Möglichkeit sich selbst in dem nachgestalteten Gegenstand zum Ausdruck zu bringen, weil er sich erst jetzt in künstlerische Darstellungsmittel und traditionelle Motive einzudenken und einzuarbeiten vermag. Dieser Haltung widerspricht Richter deutlich. Der Jugendliche versucht für Richter heute nicht unbedingt die Naturformen nachzuahmen, der Natur „künstlerisch“ auf die Spur zu kommen. Das mag in Zeiten aquarellierender „höherer Töchter“ gegolten haben. Heute hat der Jugendliche andere Vorbilder vor Augen. Dementsprechend wird er seine selbsterarbeiteten Darstellungs- und Ausdrucksmöglichkeiten in den Dienst der Nachahmung von vorgegebenen Bildern stellen, die ihm in der Regel von Medien geliefert werden. Weder die „Naturformen“ noch die „große Kunst“ sind ihm nachahmenswerte Vorbilder, sondern der umfassende Bereich von künstlerischen „Derivaten“, die der Vermarktung von Produkten dienen. Die Jugendzeichnung ist für Richter nicht durch die Nachahmung empirischer Gegebenheiten, sondern durch die Übernahme von vorgegebenen Bildern gekennzeichnet. Natürlich wird der Charakter der Adaptionen vom Elternhaus, der Schule, der Peergroup etc. beeinflusst. Daher ist es extrem schwierig aus einzelnen Fallbeispielen heraus eine Aussage über die Jugendkultur zu treffen.
Konventionalität
Insgesamt weisen die Bildkonzepte von Heranwachsenden starke Züge von Konventionalität auf. Die Art der Darstellungen soll sich zwar von „Kinderzeichnungen“ und auch von Gestaltungen, die die Erwachsenen bevorzugen, abheben, aber sich gleichzeitig möglichst wenig von den Gestaltungen Gleichaltriger unterscheiden. Dieser Konformismus schafft dem Jugendlichen Sicherheit, die Anerkennung des eigenen künstlerischen „Talents“ und die „Genugtuung, die kulturellen Vorstellungen der Erwachsenen ablehnen zu können“ (Richter). In bestimmten Gruppen lässt dieser Affekt gegen die „Ästhetik“ der Erwachsenenwelt am Ende des Jugendalters nach.
„Krise“ oder „Umstrukturierung“?
In älteren Darstellungen endet die Kinderzeichnung in der Vor-Pubertät in einer Art „Krise“, welche durch den „Verlust des gestalterischen Potentials“ (Mühle) der Kindheit gekennzeichnet ist. Der Jugendliche verfügt über einen individualisierten Darstellungscode, der er bewusst einzusetzen vermag. Richter sieht in den Merkmalen der späten Kindheit (Detaillierung, Umstrukturierung, Karikierung), die andere als Krise deuten eher eine erneute Phase der Umstrukturierung des Bildkonzepts, dessen krisenhaft empfundenen Merkmale verschwinden sobald der Jugendliche zu einem neuen, stabilen Bildkonzept gefunden hat.
Antagonistische Phase – „kulturelle Probehandlungen“
Die Phase der Jugendzeichnung selbst kann als eine in sich widersprüchliche, antagonistische Periode quasi- künstlerischer Gestaltung angesehen werden. Sie ist geprägt vom Wechsel der Darstellungskonzepte und der Suche nach einem individuellen Darstellungsstil. Diese Suche kann auch noch das Erwachsenenalter bestimmen oder sogar als Prinzip künstlerischer Gestaltung in Zeiten „moderner Kunst“ (Richter) gelten. So verstanden sind die Reifungsvorgänge im Jugendalter qualitativ von denen der Kindheit verschieden, jedoch nicht durch eine Krise von ihnen abgetrennt. Die antagonistische Phase der Jugendzeichnung gestattet es dem Jugendlichen „Erwachsenwerden zu probieren“ (Richter). Die wechselhaften künstlerischen Objektivationen Jugendlicher lassen sich so verstanden als „kulturelle Probehandlungen“ charakterisieren.
Entwicklung der Raumorganisation in der Kinderzeichnung
In der Literatur überwiegen die Erörterungen über die Entwicklung und die Struktur der räumlichen Beziehungen, weil sie einer beobachtbaren Abfolge unterliegen und sich mit den kopgnitiven Plänen und inneren Schemata, d.h. den psychischen Korrelaten des zeichnerischen Geschehns in Beziehung setzen lassen, während der Farbausdruck auch aus emotionalen Quellen gespeist wird und situativen Bedingungen wie den Lokalfarben und dem zur Verfügung stehenden Farbmaterial abhängt.
Um den 8./9. Monat beginnt das Kind seine Schmieraktivitäten auf Wänden, Tischplatten, seltener auch Papierbahnen zu platzieren. Als elementarste räumliche Organisation, welche die Wahrnehmung erfassen kann, wird bei Piaget (1971) das Benachbartsein genannt. Diese Relation korrespondiert mit der Trennung. Während in den frühesten Kritzelzeichnungen die Gebilde ineinander gezeichnet werden, sind später „Trennungen“ und „Nachbarschaften“ zu beobachten. In der Literatur werden diese Gebilde „Streubild“ oder auch „Lückenbild“ genannt. Das früheste Raumkonzept ist die begehbaren Fläche dieses Streubildes. Überschneidungen werden vermieden. Es gibt keinen bestimmten Blickpunkt, kein links und rechts, kein unten und oben. Das Kind geht in seiner Bildnerei zunächst von haptischen Qualitäten aus. Die Zeichenfläche übersetzt die kindliche Darstellung flächenhaft.
Konturbild
Mit der Entdeckung der Kontur trennt diese künftig das Innen und das Außen. So sitzen Haare sternförmig um die Kopfform herum und so sind die Phänomene des Röntgenbildes erklärbar. Ist etwas verdeckt, dann übermalt das Kind die Form. Die Rolle der Kontur bleibt Kennzeichen der Kinderzeichnung bis ins Jugendalter.
Aufrichtungstendenz
Am Ende der Kritzelphase entwicklen sich die ersten festen Organisationsformen des Bildraums und zwar in Form von Trennung in Oben und Unten und Links und Rechts. Vor dem 5. Lebensjahr werden Formelemente zwar schon rechtwinklig zueinandergesetzt. Das Gesamtgefüge des Bildes kann aber durchaus noch andere Formen oder Gruppierungen ausweisen, die z.B. durch Drehen des Blattes entstehen. Erst mit dem 5. Lebensjahr hat sich dieses räumliche Programm, diese „Aufrichtungstendenz“ (Mühle) vollständig etabliert.
Oerter (1977) beobachtet, dass Vorschulkinder einen Objektzusammenhang „fokal“ also vom Zentrum aus wahrnehmen. Analoges könnte sich auch in der frühen Raumorganisation der Kinderzeichnung niederschlagen. Abgesehen von den „Umklappungen“ erfüllt die stabilisierte Raumdarstellung mit dem Erreichen der „Werkreife“ die Erwartungen an ein lesbares graphisches Repräsentationssystem.
Standlinienbild
Das Aufrichten der Motive erfolgt zunächst von der unteren Blattkante aus, die zur beherrschenden Standlinie des gesamten Systems wird. Wenig später erscheint die sog. Bodenlinie parallel zur Blattkante, der die Himmelslinie oben entspricht. Beide Linien werden zunehmend deutlicher als Flächen oder Zonen ausgebildet. Zusammen mit dem Gegenstandsbereich entsteht ein Raumschichtenbild oder „Streifenbild“. Je nach Erzählintention des Kindes kann die Bodenlinie auch verdoppelt oder verdreifacht werden um Szenen „hinter“ der Hauptszene als Standlinien zu dienen. Auch kann die Himmelszone nicht ausgeführt werden. Das Standlinienbild stellt den ersten Versuch des Kindes dar klare räumliche Bezüge zu schaffen. Boden und Himmel werden unterschieden. Anfangs ist die Blattkante der Boden. Profildarstellungen werden wegen der Suche des Kindes nach der typischsten Erscheinung bevorzugt. Ein Kopf kann durchaus einmal 2 Nasen bekommen. Wegen des Prinzips des rechten Winkels entstehen Klappbilder oder „Landkartenbilder“ (Mühle). Die meisten Schulanfänger geben den Raum in Standlinienbildern wieder.
Klappbild
Kaum ein Phänomen der Kinderzeichnung hat die Literatur so beschäftigt wie das Phänomen der „Umklappung“. Bei jeder Raumkonstruktion auf der Fläche handelt es sich um eine Übersetzungsleistung von der Dreidimensionalität der Wahrnehmungsinhalte in die Zweidimensionalität der Bildfläche, die beim Kind unter den Bedingungen einer sich erst entwickelnden Abstraktionsfähigkeit steht und dem Prinzip der größtmöglichen Verdeutlichung von Erzählinhalten unterliegt. So erklärt sich das Phänomen der „Umklappung“ als eine produktive Lösung eines Darstellungsproblems, bestimmte Mitteilungsinhalte mit den jeweiligen Darstellungsfähigkeiten des Kindes zu vereinen. Viele Kinderzeichnungen weisen in diesem Zusammenhang analog zu den Darstellungen früher Kulturen simultanperspektivische Phänomene auf.
Horizontbild und Schrägbild
Nach dem 9. Lebensjahr ist im Zusammenhang mit einer Ausweitung der Motivskala und der Detaillierung auch eine Umstrukturierung des Raumkonzepts zu beobachten. Die Bodenzone dehnt sich aus und wird dadurch in die Lage versetzt diagonal verlaufende Wege etc. aufzunehmen. Die Himmelszone wir der Bodenfläche erst angenähert, dann angegliedert. Es kommt zur Ausbildung einer Grenzzone, eines „Horizonts“. Häufig wird jetzt der Himmel nicht ausgeführt sondern bekommt die Aufgabe die Luft, die Atmosphäre zu repräsentieren. So kann der dominierende Vordergrund zuerst ausgeführt werden und die Himmelszone muss nicht über, bzw. hinter die Gegenstände des Vordergrundes gemalt werden. Nur bei der Darstellung von „kubischen“ Elementen wie Haus oder Auto beginnt in dieser „Flächentiefe“, wie Richter es nennt, das Kind mit ersten Versuchen einer plastischen Konstruktion, indem es diese Motive „schräg“ in die Fläche einzeichnet, so dass 2 Seiten des Gegenstandes zu sehen sind. Aus diesem Grunde charakterisiert Meyers dieses Raumkonzept als „Schrägbild“ oder auch als Zwischenstufe auf dem Weg zum „Horizontbild“. Bei Reiss wird dieses Phänomen auch „Steilbild“ genannt, bei denen die abgebildeten Gegenstände annähernd in Parallelperspektive dargestellt werden. Erste Überschneidungen weisen den Weg, wie sich das Kind künftig räumliche Tiefe erobert. Insgesamt erscheinen die Raumkonzepte dieser Phase H.G. Richter als „Aufklappbilder“. Das Kind hat nun mit etwa 10 Jahren ein Schema entwickelt, das es ihm möglich macht, räumliche Beziehungen zu antizipieren. Es denkt sozusagen von einem Standpunkt aus und kann andere räumliche Zusammenhänge zu diesem in Beziehung setzen.
Linear-perspektivische Raumkonzepte
Für die meisten Autoren sehen am Ende der Entwicklung einer linear-perspektivisch aufgebauten Raumkonzeption als notwendig und unabdingbar an. Raumvorstellungen und Raumbewusstsein des Heranwachsenden sind erst mit dem beginnenden Jugendalter so ausgebildet, dass es dem Zeichnenden möglich ist, tiefenräumliche Relationen zu verstehen und zu konzipieren, Blickwinkel zu vereinheitlichen, Linien zu verkürzen usw. Rasch begeben sich die Bildorganisationen der Jugendlichen in die Abhängigkeit von künstlerischen Ereignissen und Moden der Erwachsenenwelt und nicht jeder Jugendliche versucht sich so automatisch in einer photographisch-realistischen Gestaltung. Diese Wahl ist kulturspezifisch, vielleicht auch gruppen- und schichtspezifisch bedingt. Richter spricht im Zusammenhang mit dem einseitig auf eine „korrekte“ perspektivische Darstellung ausgerichteten Raumkonzept der Forschung auch von einem „naturalistischen Missverständnis“. „Es ist für die einzelnen Kunstepochen und Kunstgebiete nicht nur wesensbedeutsam ob sie eine Perspektive, sondern welche Perspektive sie haben“ (Panofsky, 1964). So ist es auch für die Jugendzeichnung bedeutsam, dass sie in wechselnden perspektivischen Konstruktionen konzipiert ist.
Entwicklung des Farbkonzepts der Kinderzeichnung
Am Beginn der Entwicklung des Farbausdrucks steht der Umgang mit breiartigen Materialien (Schmieraktivitäten). Man kann davon ausgehen, dass hierbei die „Farbmaterie“ (Kläger) gegenüber dem Farbcharakter dominiert, obwohl Kinder im Alter von 2 Monaten bereits eindeutig Farben unterscheiden können und schon ab 3 Monaten Vorlieben für bestimmte Farben entwickeln. Im Kritzelstadium dominieren Bewegungsabläufe, welche durchaus in bevorzugten Farben realisiert werden können. Man kann schon in dieser frühen Phase „Formseher“ von „Farbsehern“ unterscheiden (vgl. Kläger, 1974). Allgemein unterscheiden sich Phasen der Form- und der Farbdominanz. Mit der Werkreife orientiert sich das Farbkonzept zunehmend an der Lokalfarbe im Sinne eines Merkmal des dargestellten Gegenstandes im Sinne eines „prägnanten“ Repräsentationskonzepts. Auch im Farbkonzept stellt sich wie im Raumkonzept im Laufe der Schemaphase ein Lerneffekt ein. So variiert zunehmend der Farbauftrag in deckend und lasierend, die typisierende Farbwahl weicht einer durch Mischen differenzierteren. Der Farbausdruck trägt ab dem 8. Lebensjahr zu den Differenzierungstendenzen bei, die allgemein zu dieser Zeit zu beobachten sind. Am Ende der Schemaphase, zu Beginn der Jugendzeichnung, gerät auch das Farbkonzept unter den Einfluss der widerstreitenden Bestrebungen der „Adaption“ und „Ablehnung“. Der Heranwachsende präferiert jetzt entweder den Darstellungswert der Farbe im Sinne einer naturnachahmenden Kolorierung oder er entdeckt den „Eigenwert“ der Farbe als Element eines autonomen Gestaltungskonzepts.
Die Erzählstrukturen der Kinderzeichnung
Schon frühen Beobachtern (Levinstein, 1904) war aufgefallen, dass Kinderzeichnungen häufig den Charakter von „Erzählungsbildern“ annehmen. Es gibt große Unterschiede in der Widergabe einzelner Themen ( vgl. Massenuntersuchungen zu Themen wie „Hans Guck in die Luft“). Zeichnungen mit Bilderfolgen treten in Kinderzeichnungen schon vor Verbreitung des Comics auf. Daneben gibt es genauso die Darstellung einzelner Szenen oder komplexe Simultandarstellungen. Es gilt jedenfalls den „narrativen“ Wert (Widlöcher) einer Kinderzeichnung zu erschließen, bei der die verbalen Aussagen des Kindes zu seinem Bild eine Rolle spielen. Eine Rekonstruktion häufig nur möglich, wenn entsprechende Protokolle vorliegen. Das Problem der „graphischen Erzählung“ (Luquet, 1927) ist das Übersetzen eines sukzessiven Geschehens in ein simultanes Bildgefüge. Die primitive Kunst, die naive Kunst, aber auch die Hochkunst des MA bieten Lösungsmöglichkeiten für dieses Problem an, die von Luquet untersucht wurden.
Die repräsentative Bilderzählung
- Der Zeichnende wählt aus dem Zusammenhang ein wichtiges zentrales Ereignis aus, das er stellvertretend für die Geschichte darstellt. Luquet nennt diese Darstellungstypus „symbolisch“, Richter schlägt das Wort „repräsentativ“ vor.
Die sukzessive Bilderzählung
- Die Ereignisfolge bleibt auch im Bild erhalten, z.B. als mehrfach handelnde Figuren oder als Sequenz. Luquet nennt die Simultandarstellungen den „sukzessiven Bildtypus“, den er vom „Bilderbogentypus“ absetzt.
Entwicklung der Erzählstruktur in der Kinderzeichnung
Am Ende der Kritzelphase, die Richter mit dem Wort „Erzählreife“ belegt, kann der Kinderzeichnung ein „Thema“, ein inhaltlicher Zusammenhang entnommen werden. Schon dem „Konzeptkritzeln“ können narrative Elemente entnommen werden, wobei der Betrachter auf verbale Sinnunterlegungen des Zeichners angewiesen ist. Allgemein lässt sich Feststellen, dass die inhaltliche Dichte der Erzählstruktur mit der wachsenden Komplexität der Darstellungsstruktur zunimmt. Das Kind lernt zunehmend szenisch darzustellen. Um die Zeit nach der Werkreife entsteht das, was man im engeren Sinne „Erzählbild“ nennen könnte. Dabei überwiegen eindeutig die „repräsentativen“ Darstellungsformen. Die Schemabilder dieser Phase sind also immer auch Erzählbilder, wie sie Darstellungsbilder sind. Repräsentationen wären für das Kind sinnlos, wenn sie keinen erzählenden Inhalt hätten.
Die Umstrukturierung der Bildorganisation in der späten Kindheit und im frühen Jugendalter in Richtung auf eine künstlerische Gestaltung kann mit einer Abnahme des Erzählinhaltes verbunden sein. Neben diesen erzählarmen Bildkonzepten entwickelt der Jugendliche auch Bildkonzepte mit hohem narrativen Anteil. Sie bedienen sich dabei traditioneller Darstellungsmittel und Motive, die jetzt in einer spezifischen Weise eingesetzt werden, d.h. der Selbstaussage dienen, „ der Wendung nach Innen“ zum Ausdruck verhelfen sollen.
Literatur:
Es ist im Folgenden nur möglich wichtigste Beiträge der Literatur zu dem Thema auszuwählen:
Frühe Untersuchungen:
Bühler, K., Die geistige
Entwicklung des Kindes, (1918), 3. Aufl., Jena, 1922
Goodenough, F.L./ Harris,
D. B., Studies in the Psychology of Children`s Drawing, 1928
Kerschensteiner, G., Die Entwicklung der
zeichnerischen Begabung, München, 1905
Levinstein, S., Untersuchungen über das
eichnen der Kinder bis zum 14. Lebensjahr, Diss., Leipzig, 1905
Luquet, G.H., Le dessin enfantin,
Paris, 1927
Ricci, C., L`arte dei bambini,
Bologna, 1887 / Leipzig, 1906
Sully, J., Untersuchungen über die Kindheit,
(1895), Leipzig, 1897
Pfleiderer, W., Die Geburt des Bildes,
Stuttgart, 1930
Klassische Schriften zum Thema:
Grötzinger, W., Kinder kritzeln,
zeichnen, malen, München, 1952
Kläger, M., Das Bild und die Welt des
Kindes, München, 1974
Lowenfeld, V., Vom Wesen schöpferischen
Gestaltens, 4. Aufl., New-York, 1967
Lowenfeld, V., Brittain, W.L.,
Creative and Mental Growth, 4. Aufl., New York, 1967
Meyers, H., Die Welt der kindlichen Bildnerei,
1957, 3. Aufl., Witten, 1971
Meyers, H. Psychologie und Psychagogik
des Bildnerischen Gestaltens, in: Handbuch der Kunst- und Werkerziehung, Bd.
, Berlin, 1953
Mühle, G., Entwicklungspsychologie des
zeichnerischen Gestaltens, 3. Auflage, Frankfurt, 1971 (1955)
Piaget, J., Inhelder, B., Die Entwicklung
des räumlichen Denkens beim Kinde, Stuttgart, 1971
Selfe, L. Normal and anomalous
representional drawing ability in children, Sommers/London, 1983
Volkelt, H., Die Prinziopien der Raumdarstellung
des Kindes, Bietigheim, 1968
Widlöcher, D., Was eine Kinderzeichnung
verrät, (1965), München, 1974
Aktuellere Darstellungen, Allgemeine Fachdidaktiken:
Bareis, A., Vom Kritzeln
zum Zeichnen und Malen, Donauwörth, 1980
Edwards, B., Garantiert zeichnen lernen,
Reinbeck, 1982
Eid, K., Langer, M., Rupprecht, H., Grundlagen
des Kunstunterrichts, Paderborn, 1994
John-Winde, H. Kriterien zur Bewertung
der Kinderzeichnung, Bonn, 1981
John-Winde, H., Roth-Bojadzhiev, G., Kinder,
Jugendliche, Erwachsene zeichnen, Baltmannsweiler, 1993
Reiß, W. Kinderzeichnungen, Neuwied, 1996
Richter, H.G., Die Kinderzeichnung, Düsseldorf,
1987, (4. Aufl., Berlin, 1997)
Schuster, M., Die Psychologie der Kinderzeichnung,
Berlin 1990
Schuster, M., Kinderzeichnungen – wie
sie entstehen, was sie bedeuten, Heidelberg, 1994
Schuster, M. Wodurch Bilder wirken, Köln,
1992
Seitz, R., Daucher, H. Didaktik der Bildenden
Kunst, München, 1969 , (12. Aufl., 1982 )